Stillhalteklausel Türkei

Gemäß Art 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.

Gemäß Art 14 Abs 1 ARB 1/80 gilt dieser Abschnitt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.

Gemäß Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls verpflichten sich die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen.

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im Urteil vom 15.11.2011, C-256/11 Dereci, in Randziffer 88 ausgeführt, dass die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls nicht aus sich heraus geeignet sei, türkischen Staatsangehörigen allein auf der Grundlage des Unionsrechts „ein Niederlassungsrecht und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht zu verleihen“, und kann ihnen auch „weder ein Recht auf freien Dienstleistungsverkehr noch ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“ verschaffen. Die Klausel verbiete jedoch allgemein die Einführung neuer Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, „dass die Ausübung dieser wirtschaftlichen Freiheiten“ durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn galten, als das Zusatzprotokoll in Bezug auf den betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat.

Da der EuGH in der Rechtssache Dereci – wie oben ausgeführt – immer nur auf die Niederlassungs- bzw Dienstleistungsfreiheit abstellt, ist auch davon auszugehen, dass das Abkommen nur eine Person schützt, die im Zeitpunkt der Einreise in einen Unionsstaat die Absicht hat, dort (dauerhaft oder zeitlich befristet) einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. In diesem Sinne dürfte auch der Verwaltungsgerichtshof zu verstehen sein wenn er festhält, dass die belangte Behörde „auf Grund der dem … erwerbstätigen türkischen Beschwerdeführer zu Gute kommenden Stillhalteklauseln“ günstigere Rechtsbestimmungen hätte heranziehen müssen“ (VwGH 13.11.2012, 2008/22/0844; ebenfalls auf die bereits bestehende Erwerbstätigkeit abstellend etwa VwGH 13.12.2011, 2008/22/0180).

Dem Beschwerdeführer, der in Österreich offenkundig die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beabsichtigt hat und zufolge den Feststellungen der belangten Behörde auch bereits einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, könnte allerdings die Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (im Folgenden: ARB 1/80) bzw. des Art. 41 Abs. 1 des mit der Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen (im Folgenden kurz: Zusatzprotokoll) zugutekommen. Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Gemäß Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls führen die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs ein. Diese Klauseln entfalten unmittelbare Wirkung und schließen bezüglich der in ihren Geltungsbereich fallenden türkischen Staatsangehörigen die Anwendbarkeit aller neu eingeführten Beschränkungen aus (VwGH 13.12.2011, 2008/22/0180).

Zum einen hat der EuGH klargestellt, es stehe der Anwendung des Art. 13 ARB 1/80 nicht entgegen, dass der betreffende Arbeitnehmer nicht bereits (legal) in den Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates integriert ist, also die Voraussetzungen gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht erfüllt; die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 dient nämlich, so der EuGH, nicht dazu, die schon in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integrierten türkischen Staatsangehörigen zu schützen, sondern soll gerade für die türkischen Staatsangehörigen gelten, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 genießen (vgl. das Urteil Toprak und Oguz, Randnr. 45, samt den dortigen Hinweisen auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH, VwGH 23.12.2011, 2008/22/0180).

Nach der vor dem 1. Jänner 2006 geltenden Rechtslage des Fremdengesetzes 1997 (FrG) durfte jeder Ehegatte eines Österreichers – gleich welcher Staatsangehörigkeit – den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland stellen und die Entscheidung im Inland abwarten. Der Antrag durfte nur dann abgelehnt werden, wenn der Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Ordnung und Sicherheit darstellte (§ 49 FrG). Der Anwendungsbereich des § 49 FrG erfasste (nicht nur, aber) auch jene Angehörigen von Österreichern, die türkische Staatsangehörige waren. Mit der am 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen Änderung der Rechtslage (Außerkrafttreten des FrG und Inkrafttreten des NAG) wurde die Rechtsposition aller drittstaatszugehörigen Angehörigen von Österreichern umgestaltet. Von den ab diesem Zeitpunkt geltenden strengeren Voraussetzungen waren wiederum auch jene Angehörigen von Österreichern, die türkische Staatsangehörige sind, betroffen (VwGH 13.12.2011, 2008/22/0180).

Zur Anwendbarkeit der Stillhalteklausel bei „nicht ordnungsgemäßen Aufenthalts“ ist in Bezug auf das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 15. November 2011, C-256/11 „Dereci“, festzuhalten, dass in der Rechtssache „Dereci“ ein zunächst rechtmäßiger Aufenthalt vorlag, der nur durch das Inkrafttreten des NAG zu einem nicht ordnungsgemäßen Aufenthalt wurde. Insofern hielt der EuGH auch unter Randnr. 100 seines Urteils fest, dass eine nicht ordnungsgemäße Situation deshalb nicht gegeben sei, „da die Unregelmäßigkeit infolge der Anwendung der Bestimmung eingetreten ist, die eine neue Beschränkung darstellt“. Vgl. dazu auch VwGH 15.10.2015, 2015/21/0117: Liegt die Unregelmäßigkeit des Aufenthalts des Fremden schon von vornherein vor, und zwar insbesondere vor seiner Heirat mit einer österreichischen Staatsbürgerin und damit unabhängig von der mit 1. Jänner 2006 durch das NAG 2005 eingeführten „neuen Beschränkung“, so ist die Unregelmäßigkeit der Situation des Fremden gerade nicht infolge der Anwendung der neuen Bestimmungen eingetreten; sie hatte sich vielmehr schlicht dadurch ergeben, dass er während seines Asylverfahrens keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige Position im österreichischen Hoheitsgebiet innehatte. Sein Aufenthalt war daher nicht „ordnungsgemäß“ (vgl. EuGH 7.11.2013, C-225/12 „C. Demir“), weshalb er sich nicht auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen kann. Dies steht nicht nur in Einklang mit den Urteilen des EuGH (21.10.2003, C-317/01, „Abatay“; 17.09.2009, C-242/06, „T. Sahin“), sondern entspricht auch der Judikatur des VwGH (dazu, dass eine asylrechtliche vorläufige Aufenthaltsberechtigung keine „gesicherte Position“ vermittelt, E 16.01.2007, 2006/18/0402; E 21.03.2013, 2011/09/0171; zum Erfordernis der „Ordnungsgemäßheit“ für die Anwendbarkeit von Art. 13 ARB 1/80 E 26.01.2012, 2008/21/0304; E 24.03.2015, Ro 2014/09/0057).

Die Ordnungsmäßigkeit der Beschäftigung setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats voraus (vgl. EuGH 20.09.1990, C-192/89, Sevince, EuGH 08.11.2012, C-268/11, Gülbahce, Rn 39 und die dort angeführte Rechtsprechung; EuGH 07.11.2013, Demir, C-225/12. Rn 46). Die Judikatur ist primär zu Art. 6 ARB 1/80 ergangen:

  • Verneint wurde eine solche ‚gesicherte und nicht nur vorläufige Position‘ in Fällen innerstaatlicher Erlaubnisse zum vorläufigen Aufenthalt, die rechtlich so ausgestaltet waren, dass sie nur (gleichsam mit einstweiliger Wirkung) bis zur endgültigen Entscheidung über das Aufenthaltsrecht des Betreffenden galten (EuGH 29.09.2011, C-187/10, Unal, Slg. 1-9045, Rn 47).
  • Verneint wurde eine ‚gesicherte und nicht nur vorläufige‘ Position weiters im Fall eines Aufenthalts während des Zeitraums, in dem eine Klage des Arbeitnehmers gegen eine Entscheidung, durch die ihm eine Aufenthaltserlaubnis verweigert wurde, aufschiebende Wirkung hatte und ihm auf Grund dessen bis zum Ausgang des Rechtsstreits (nur) vorläufig der Aufenthalt und die Ausübung einer Beschäftigung im betreffenden Mitgliedstaat gestattet waren (EuGH 20.09.1990, C-192/89, Sevince, Sig. 1-3461).
  • Verneint wurde das Vorliegen einer ‚gesicherten und nicht nur vorläufigen‘ Position auch in Fällen, in denen dem Betreffenden ein Aufenthaltsrecht nur aufgrund einer nationalen Regelung eingeräumt war, nach der der Aufenthalt während des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Aufnahmeland erlaubt ist, da er das Recht, sich bis zu einer endgültigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht in dem betreffenden Staat aufzuhalten und dort zu arbeiten, nur vorläufig erhalten hatte (EuGH 16.12.1992, C-237/91, Kus, Slg. 1-6781; EuGH 30.09.1997 Ertanir Rn 48 bis 50).
  • Darüber hinaus verneinte der EuGH die Einstufung eines Aufenthalts als ‚gesichert und nicht nur vorläufig‘ im Fall von Beschäftigungszeiten, die aufgrund einer Aufenthaltserlaubnis zurückgelegt wurden, die der Betreffende allein durch eine Täuschung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, erwirkt hat (vgl. u. a. EuGH 05.06.1997, C-285/95, Kci/, Sig. 1-3069, Rn 27, und EuGH 11.05.2000, C-37/98, Savas, Sig. 1-2927, Rn 61).
  • Der Verwaltungsgerichtshof verneinte eine ‚gesicherte und nicht nur vorläufige Position‘ in Konstellationen, in denen der Aufenthalt des Fremden nicht im Einklang mit den aufenthaltsrechtlichen Vorschriften stand, weil seine Niederlassungsbewilligung bloß eingeschränkt auf unselbständige Erwerbstätigkeiten, die vom sachlichen Geltungsbereich des Ausländerbeschäftigungsgesetzes ausgenommen sind, erteilt gewesen war (VwGH 24.02.2009, 2008/22/0410).
  • Er verneinte sie weiters im Fall eines vorläufigen asylrechtlichen Aufenthaltsrechtes, weil dieses mit dem zu einem ungewissen Zeitpunkt eintretenden Abschluss des Asylverfahrens endet (VwGH, 01.06.2001, 2001/19/0035, mwN) und implizit auch für einen nach § 24 Abs. 1 lit. a des Passgesetzes 1969 erteilten Sichtvermerk, mit Hinweis auf dessen Geltungsdauer (VwGH aaO).
  • Was Artikel 6 ARB 1/80 betrifft, ist aber zu berücksichtigen, dass diese Bestimmung eine gesicherte und nicht nur vorläufige des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates voraussetzt. Eine gesicherte und nicht nur vorläufige des Betroffenen erfordert das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechtes. Diese Voraussetzung wird insbesondere dann nicht erfüllt, wenn das Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet bloß auf Grund einer asylrechtlichen vorläufigen Aufenthaltsberechtigung besteht. Diese Berechtigung vermittelt nämlich keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt (VwGH 07.09.2011, 2008/08/0211, mwN).

Folgende Judikatur findet sich explizit zu Art. 13 ARB 1/80:

  • Demgegenüber bejahte der Verwaltungsgerichthof die Anwendbarkeit der Stillhalteklausel nach Art. 13 ARB 1/80 in Fällen, in denen der Antragsteller noch keinen Aufenthaltstitel inne hatte, in denen gerade jene (innerstaatlichen) Regelungen hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit Art. 13 ARB 1/80 zur Beurteilung standen, die dem beantragten Aufenthaltstitel entgegenstanden (VwGH 13.12.2011, 2008/22/0180, in Anwendung der Grundsätze des Urteils des EuGH vom 15.11.2011, C- 256/11, Dereci).
  • Im vorliegenden Fall lag die Unregelmäßigkeit seines Aufenthalts aber schon von vornherein vor, und zwar insbesondere vor seiner Heirat mit einer österreichischen Staatsbürgerin und damit unabhängig von der mit 1. Jänner 2006 durch das NAG eingeführten „neuen Beschränkung“. Die Unregelmäßigkeit der Situation des Revisionswerbers ist daher gerade nicht infolge der Anwendung der neuen Bestimmungen eingetreten; sie hatte sich vielmehr schlicht dadurch ergeben, dass er während seines Asylverfahrens keine gesicherte, sondern nur eine vorläufige Position im österreichischen Hoheitsgebiet innehatte. Sein Aufenthalt war daher nicht „ordnungsgemäß“ (siehe zuletzt das Urteil des EuGH vom 7.11.2013, C-225/12, „C. Demir“, Randnr. 48), weshalb er sich nicht auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen kann (VwGH 15.10.2015, Ra 2015/21/0117).
  • Art. 13 ARB 1/80 ist dahin auszulegen, dass der Aufenthalt der türkischen Staatsangehörigen nicht ordnungsgemäß ist, wenn diese eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis besitzen, die nur bis zur endgültigen Entscheidung über ihr Aufenthaltsrecht gilt (EuGH 7.11.2013, C-255/12, „Demir“, Randnr. 49).

Beachte aber: Der Begriff der „Ordnungsgemäßheit“ wurde vom EuGH unter Verweis auf den verwandten Begriff „ordnungsgemäße Beschäftigung“ in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erläutert, wobei der Begriff „ordnungsgemäß“ im Sinne von Art. 13 ARB 1/80 eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates, die ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraussetzt (VwGH 24.03.2015, Ro 2014/09/0057).

Anwendungshinweise_zum_Assoziationsrecht_EWG_Tuerkei_BMI_Deutschland

Gleichzeitig mit Asylantrag
Einem Angehörigen eines österreichischen Staatsbürgers stand im Geltungsbereich des Fremdengesetzes 1997 aber auch der Status eines vorläufig aufenthaltsberechtigten Asylwerbers bei der Erteilung einer Niederlassungsbewilligung nicht entgegen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 19. Dezember 2000, 99/19/0234). Daher bewirkte § 1 Abs. 2 Z 1 NAG, der vorläufig aufenthaltsberechtigte Asylwerber, auch wenn sie Angehörige von Österreichern sind, von der Erteilung eines Aufenthaltstitels ausschließt, eine unzulässige Schlechterstellung im Sinn des zitierten Assoziationsrechts (VwGH 19.01.2012, 2008/22/0837).